#15 Von guten Mächten

Am Tag nach dieser schrecklichen Amokfahrt  in meiner Stadt saß ich eigentlich schon beim Bier in der Sonne am Wasser und war entschieden. Leerlauf, in Ruhe sein, die Kälte der Knochen in der Wärme zum Schmelzen bringen. Ein herrlicher Frühlingstag, der zweite des Jahres, der erste war ja tags zuvor wohl zu viel des Guten gewesen für einen traurigen Menschen. 

Dann Unruhe aus heiterem Himmel, eine Zielstrebigkeit, eine Gewissheit, lange bevor ich kapierte.

"Zahlen bitte!". Total intuitiv ließ ich mich treiben, ziehen vielleicht. In den Dom. Zum Gedenkgottesdienst, was mir schon beim Eintreten überhaupt nicht mehr seltsam vorkam oder falsch. 

Die Kirche war rappelvoll, der Bischof begrüßte ausdrücklich auch alle, die nicht im christlichen Glauben beheimatet sind, weil wir einander jetzt bräuchten, egal, was unsere Ansicht sei. Dass uns unsere Traurigkeit, aber auch der Wunsch, gemeinsam da zu sein, vereine, sagte dieser kleine Mann mit seinem schweren rheinischen Akzent und diesen verquollenen, aber wachen Augen.

Er sprach langsam und bedacht, flüsterte fast dabei, verzichtete auf jede religiöse Relativierung (im Kreuz und im Tod ist Heil und Leben usw., ich hätte wohl auch gekotzt), sondern stand einfach leise und klar dort, "mit leeren Händen", wie er sagte, und der nicht zu beantwortenden Frage nach dem "Warum?".

Als dann Kerzen ausgeteilt wurden, wir gemeinsam Lichtwirbel durch die dunklen Gänge der riesigen Kirche fegten, wir dicht dastanden, warm gedrängt, singend, einander ansteckend, einig, da war ich sicher:

Liebe ist die Antwort, nie Angst ...

Meine vom kühlen Luftzug skurril zerklüftete Kerze legte ich später zu den tausend anderen dem stummen Eisenmann mit der schweren Kiepen-Last auf den Schultern zu Füßen, stand schweigend da, mit offenem Herzen, traurig, verbunden und auf seltsame Weise glücklich. 

 

 

Thomas (41), Münster

herzblut floss in dunkelster Nacht, im April 2018 in Münster

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Kommentare: 3
  • #1

    Ulrike (Montag, 24 September 2018 23:17)

    So oft stehen wir mit leeren Händen da. Und sind getröstet, wenn wir in diesem Augenblick nicht allein sind.
    Danke für diese intensive Beschreibung. Die Antwort ist: gemeinsam!

  • #2

    Paula (Freitag, 15 März 2019 06:46)

    Es ist interessant, wie Geschichten uns erreichen. Das ist ein sehr schöner Moment in Dir, obwohl der Moment nicht schön war. Und beim lesen noch mal, nach längere Zeit, kann ich die Geschichte schöner und tiefer fühlen.

  • #3

    Cordelia (Samstag, 25 April 2020 15:35)

    Es ist beeindruckend, wie groß die Anteilnahme sein kann, selbst wenn man nicht persönlich betroffen ist. Wenn man als Mensch betroffen ist. Und wie man gemeinsam Trost spenden und finden kann, fast ohne Worte - das bringst du fühlbar auf den Punkt. "Von guten Mächten" habe ich einmal mit anderen in einer ähnlich sprachlos machenden Situation gebetet.