"You go, You go, where nobody knows."
Ich stehe gerade mal fünf Tage nach dem unfassbaren Konzert in Münster zum zweiten Mal mit geschlossenen Augen und höre diese Textzeile. Wir sind im Gloria in Köln. Und es sind Pale, die das singen. Der Song handelt davon, plötzlich nicht mehr da zu sein und vom Vermissen und Überleben, von der Liebe und der Zuversicht, dass das alles stärker ist als jede Distanz, selbst stärker als der Tod.
Der Song handelt von Christian, dem Gitarristen der Band, der vor anderthalb Jahren an einem scheiß Hirntumor gestorben ist, gerade mal ein Jahr älter als ich und wirklich das „Lucky Thing“ war, als das er erzählt wird, wie es sogar auf rote Taschen gedruckt steht, zum Umhängen, zum durchs Leben tragen, weil es genau da hingehört.
Ich habe Pale durch Christian kennengelernt. Und durch Hilly, den Bassisten. Vor unglaublichen 27 Jahren. In einem Wickelraum haben wir uns erstmals getroffen, Sonderschule, Zivildienst, Schwerstmehrfachbehindertenbereich. Meine Angst, dass ich ohnmächtig werde oder wegrenne, wie weggeweht. Untergehakt von zwei glorreichen Halunken, die ihr Herz in die Hand nahmen und einfach machten. Hilly, der Schnoddrige mit dem furztrockenen Humor, ein Kumpel mit dem feinen Touch gerade für die sozial Benachteiligten. Und eben Christian, Bruce Lee-Geschmeidigkeit und Herzenswärme, unglaubliche Nähebereitschaft und feine Distanz. Respekt und Interesse für jeden, wirklich jeden. Ich weiß nicht, ob ich je einen aufrichtig freundlicheren und achtsameren Menschen traf.
Die gemeinsame Zeit im Pausenkabuff war mir ein einziges Aha, ich habe sicher tausend leger geschnippste Zigaretten in Mündern landen sehen, sicher tausendmal jungshafte Freude erlebt, dass dieser coole Move so sicher sitzt. Wir haben dummes Zeug erzählt und sie auch viel Schlaues. Ich, der Kleine, habe so viel gelernt über die Arbeit, aber auch über den Umgang mit Grenzen. Aufgesaugt habe ich es und mich sinnvoll und richtig gefühlt. Ich bin dann später ja auch Sonderpädagoge geworden. Eben weils so viel Sinn gemacht hat.
Im Kabuff auch die Einladung zum ersten Konzert, Releaseparty, Bürgerzentrum Merkstein. Herbst 96. Hilly hämmert wild auf seinem Bass und springt von der riesigen Box, Christian ist der konzentriert sanft Lächelnde und spielt auch noch verdammt cool Gitarre. Ich liebe diese Band sofort. Wegen der Bedeutung drumherum, wegen der angebotenen Nähe, aber auch, weil ich die Musik mag. Emotional, nach vorne, spielerisch, ernsthaft, selbstverliebt, leicht, rotzig, elegant.
Ich bin seither auf unzähligen ihrer Konzerte gewesen, die Band hat sich weiterentwickelt, einige Male auch neu erfunden, ist groß geworden, kurz auch mal ziemlich groß, ist sich dabei im Kern treu geblieben. Das alles hat sie mir eher noch nähergebracht, weil es mir doch ganz genau so ging.
Ich lebe mittlerweile seit exakt 20 Jahren in Münster, 200km fern der Heimat, wo ich sicher war, nur zwei Jahre hier zu bleiben und jetzt so gut verwurzelt bin. Aber ich kenne Heimweh, ich kenne Heimweh so gut und ich liebe das Gefühl. Das Auawohl, das Sehnen, das Tiefe. Und da tut es so gut, Heimatsymbole zu haben, zu lieben, zu pflegen, zu vermissen. Und für mich gibts drei: Erstmal die Alemannia, diesen wunderbar tragischen Knappvorbei-Verein, dann meine Herkunftssprache mit ihrer erdnahen Kratzigkeit, ihrem bipolaren Drama, ihrem weichen Schwammdrüber-Singsang. Und schließlich Pale. „Wir sind Pale aus Aachen“- Pale. Meine Pale.
Vor 14 Jahren spielten sie ihre letzten Konzerte, eins davon auch schon wieder ausgerechnet in Münster, vor meiner neuen Haustür und ich war traurig, dass da was zu Ende ging. Und dann vor 11 Jahren ihr allerletztes, diese Spielwütigen haben es ausgereizt, hatten ein altes Versprechen laufen und nochmal alles rausgekramt. Diesmal in der Heimat, Freilichtbühne, ganz großes Besteck, ich da mit meinem Bruder und so tief drin im Gefühl, ein Fest, eine erhobene Faust, Zeitreise. Don't look back in anger. Perfekter Tag.
Dann die Nachricht von Christians Krankheit, von dem irren Unterfangen der Jungs, die letzte Zeit zu nutzen, nochmal zusammen Musik zu machen. Und dann die Nachricht, dass er gestorben ist. Stille. Sprachlose Stille.
Und dann das Album, die wahnsinnig schönen Videos, die letzten Konzerte, die raren Tickets, im Coronanebel ging alles so schnell, kam alles aus der Ferne sehr nah, ging fast an mir vorbei.
Aber ich bin da. Ich bin beide Male da. Ich bin beide Male volle Kanne da.
Ich stehe jetzt hier, direkt am Mischpult, mein Bruder wieder nur eine Armlänge entfernt, ich spüre ihn und bin so dankbar dafür. Holger singt das alles sehr genau, er hat viel Kraft und es ist so klar, wo die hingeht, wo die herkommt. Im Hintergrund flimmert Christian über eine Leinwand, tanzt und rennt und schnippst und lächelt uns an.
Ich liebe diesen Beat und bin so froh, als ich bei der Stelle mit Christians Sohn endlich weinen kann. Ich tanze, ich weine, ich singe. Das ist so stark, so pur, es ist so traurig, es ist so schön.
Das ganze Konzert haut mich um, haut uns alle um, die wir zusammengekommen sind, Klassentreffen, ausverkauft, Andacht für die besten Jahre, es ist eine sehr besondere Stimmung und es ist auch musikalisch ein Wahnsinnsbrett. Als sie „Gold“ mit dem Saxofonisten von Spandau Ballett spielen, muss ich grinsen, weil das auch gut ein Christian-Move hätte sein können: Ein musikgewordener Kippenschnippser, ein Gruß aus der Ferne von diesem leichtfüßigen Moonwalker.
Es ist das größte Konzert meines Lebens, gerade mal fünf Tage nach dem zweitgrößten. Da ist wieder alles, Heimweh, ein so starkes Zugehörigkeitsgefühl, Zuhausegefühl, die große Liebe für meine Wurzeln, eine Reise durch all die Jahre, ein immenses Gefühl von Richtigkeit für die gegangenen Wege. Und gleichzeitig so viel Traurigkeit über Verpasstes und Gegangenes. Das alles in Musik gegossen, weil nur Musik das alles halten kann und tragen und bewahren.
Ich bleibe noch eine Kölschlänge nach dem letzten Akkord, will das einsaugen, will es auch beenden können. Ich umarme Holger und danke ihm. Ich kaufe mir ein Band-Shirt. „There is no better time than now" steht da.
In Großbuchstaben.
Und dann kaufe ich mir eine rote Umhängetasche, die ich durchs Leben trage. Hier in Münster, meinem gar nicht mal so neuen Zuhause.
Goodbye Lucky Thing. Und Danke.
Thomas (45), Münster (seit 2003)
herzblut floss aus der Heimat, jahrzehntelang, ins Hier und Jetzt. Und endet nicht.
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Christoph (Donnerstag, 30 März 2023 16:12)
I get smarter. I get smooth. Today!
Danke, Thomas
Paula (Donnerstag, 30 März 2023 21:05)
Wow, ich fühlte mich wie in einem Zug, voll mit deinem Gefühle. Einem Zug der nach vorne in der Zukunft schnell fährt, der durch deine ganze Erinnerungen fährt. Ich konnte noch nicht mal beim einem Punkt atmen, so gefesselt von deine Geschichte war ich. Deine Sprache faszinierte mich.